Text: Verena Noller
Spontan haben wir beschlossen, mal wieder ein Rennen zu fahren. Der Gran Fondo im Rahmen des Giro d´Italia soll es sein. Die Strecke entspricht der 16. Etappe der Italienrundfahrt 2015, 175 Kilometer von Pinzolo über die Pässe Campo Carlo Magno, Tonale und Mortirolo zur Bergankunft in Aprica. Gran Fondo Giro d’Italia Mortirolo heißt das Ganze. Toller Name! Da träumt der Radfan doch gleich vom schicken Finisher Shirt in Giro-Farben… also schnell anmelden, Hotel buchen und nach Aprica fahren.
Erste Hürde „Zeitlimit“
Aber irgendwie fühle ich mich schon bei der Registrierung völlig fehl am Platz. Das sind keine Hobby-Radler um mich herum, die sind alle von Kopf bis Fuß mit Sponsorenlogos vollgepflastert, jede Sehne und jeder Muskel sind deutlich erkennbar. Erst jetzt wird uns klar, dass wir, um den Mortirolo fahren zu dürfen, zuerst ein Zeitlimit erreichen müssen. Das heißt, die ersten 105 km müssen in 4.5 Stunden gefahren werden. Wer das nicht schafft, muss bei der ersten Zielpassage in Aprica aufhören und ist dann nicht den Gran, sondern „nur“ den Medio Fondo gefahren. Noch bin ich mir nicht sicher, ob das knapp wird oder gut machbar ist. Derweil hören wir, dass der Veranstalter eine 5%-ige weibliche Teilnehmerquote als Erfolg feiert. Was beim einen Erfolg ist, führt bei mir zu einem leicht flauen Gefühl im Magen… ist das hier eventuell doch eine Nummer zu groß für mich?
Nicht falsch verstehen, ich sitze nicht erst ein halbes Jahr auf dem Rad, ich bin schon Cape Epic gefahren, habe Ultraläufe gemacht, einen Ironman 70.3 in der Tasche und eigentlich bin ich selbstbewusst und weiß, was ich kann. Und Radfahren kann ich! Also ruhig bleiben, wird schon.
Das muss ich morgen alles wieder rauf!
Eins vorweg: Der Gran Fondo Giro d’Italia ist perfekt organisiert. Da zwischen Start und Ziel einige Berge liegen, gibt es in jede Richtung eine Shuttlemöglichkeit, je nachdem wo man schlafen beziehungsweise parken möchte. Wir entscheiden uns dazu, im Startort in Pinzolo zu übernachten, und nehmen somit den Transfer am Samstag Nachmittag vom Zielort Aprica nach Pinzolo in Anspruch. Und das gibt mir gleich den nächsten Dämpfer! Denn das ist auch die Strecke, die wir am nächsten Tag in die entgegengesetzte Richtung radeln sollen: Es geht erst mal steil bergab… und das recht lange… drei Pässe und drei Stunden später erreichen wir den Startort Pinzolo. In meinem Hinterkopf schreit es: „Das muss ich morgen alles wieder rauf! Und wenn der Bus schon so lange braucht…!“ Ich fange an zu rechnen: um das Zeitlimit zu erreichen muss ich eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 23.3 km/h fahren. Ernsthaft beginne ich zu zweifeln, ob ich bei den Abfahrten genug Zeit gut machen kann… meine Gemütslage schwankt zwischen vorzeitiger Resignation und meiner Grundeinstellung „bisher habe ich es irgendwie immer noch geschafft“.
Am nächsten Morgen am Start bin ich dann ruhig und darauf eingestellt, dass ich nur einmal nach Aprica fahren werde und das auch genug sein wird. Ich entdecke auch immer mal wieder einen Teil der 5%-Frauenquote, bestaune ihre muskulösen Beine und wünsche großzügig viel Erfolg. Das Wetter ist perfekt. Gut gelaunt und voller Vorfreude reihen wir uns zwischen all den „Semi-Profis“ in den letzten Startblock. Es geht los!
Dämpfer Nummer drei: nach 500 Metern kann ich auf dem vorderen Kettenblatt nicht mehr hoch schalten, dabei habe ich mein Rennrad doch genau wegen diesem Problem gerade noch im Service gehabt! Noch ärgerlicher: Das Einstellschräubchen ist am Anschlag. Nachjustieren nicht möglich, Mist!
Egal, es geht nun eh erst mal nur nach oben. Da brauche ich kein großes Kettenblatt. Wir strampeln fleißig, ich fühle mich stark und mit jedem überholen eines Mitstreiters bekommt mein Ego einen kleinen Schub. Der Ehrgeiz kehrt zurück. Auf dem ersten Gipfel angekommen ein kurzer Check des Tachos: 17.3 km/h im Schnitt. Jetzt geht’s ans „Zeit gut machen“. Aber die Beschleunigung bergab ist nicht so leicht, wenn der Umwerfer die Kette einfach nicht aufs große Blatt befördern will. Zu Beginn des nächsten Passes sehe ich dann dass meine Durchschnittsgeschwindigkeit immerhin auf 24.1 km/h geklettert ist. Mit aufsteigender Panik beobachte ich, wie sie dann aber wieder zehntel für zehntel fällt, während wir den 1’882 Meter hohen Passo del Tonale hochklettern. Auf der Abfahrt habe ich mit meiner extrem hohen Trittfrequenz Mühe, mich im Feld zu halten. Ist das kräftezehrend! Alle um uns herum verfallen in Stress das Zeitlimit noch zu erreichen. Die Nervosität steckt an. Der letzte Aufstieg Richtung Aprica beginnt mit einer 15% Steigung. Aber es scheint doch noch machbar, also nochmal alles geben… das Dorf rückt in Sichtweite!
Geschafft! Aber der Mann mit dem Hammer wird mich dennoch besuchen kommen. Nach einer langen Pause fahren wir nun wieder los, um den letzten großen Pass, den Pass aller Pässe, den Passo del Mortirolo zu erklimmen!
„The Mortirolo was the hardest climb I have ever ridden“
Die ersten 105 km im vorderen Drittel des Rennens haben mir ja noch das zweifelhafte Gefühl von einer gewissen Stärke gegeben. Als eine der letzten das Zeitlimit zu schaffen, bedeutet jedoch, dass ich ab hier nun den Besenwagen direkt hinter mir habe. Und das fühlt sich wirklich nicht gut an! Nach einer schönen Abfahrt und einer langen Geraden kommen wir endlich am Fuße des Mortirolo an. Die nächsten 13 km geht es steil bergauf. Und ich meine steil! Bis zu 18% Steigung und im Schnitt 12.2% sind definitiv zuviel für meine müden Beine. Lance Armstrong hat zu diesem Pass gesagt: „The Mortirolo was the hardest climb I have ever ridden“. Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen!
Wer es sich mal hart geben will
Nach einem endlos langen Aufstieg, kommen wir endlich irgendwann oben an. Und gleich geht es auf einer steilen, kurvenreichen und engen Strasse wieder ins Tal, um ein letztes Mal den Aufstieg nach Aprica zu fahren. Die Zieleinfahrt ist ergreifend: Es stehen nicht mehr viele Zuschauer hier, jedoch bekommen wir von denen, die noch ausharren, gebührende Anerkennung. Und dann gibt es erst mal Pasta und Panettone – wir sind ja schließlich in Italien!
Mein Resümee: Wer es sich mal hart geben will – der Gran Fondo Giro d’Italia Mortirolo eignet sich perfekt dafür! Tolle Landschaften und nette Italiener inklusive 🙂
DICKES DANKE: An dieser Stelle muss ich mich nun aber auch noch herzlichst bei meinem moralischen “Mortirolo-Motor” bedanken, der auch meinen Frust über meine kaputte Schaltung so tapfer ertragen hat! Mille Grazie für einen tollen Tag!
About: Verena Noller ist unsere herzallerliebste, wenn es heisst „Lust ein neues Rennen auszuprobieren?“. Mit jugendlichem Leichtsinn zeigt Sie uns doch immer wieder, wo die Messlatte zu hängen hat.
Wenn Sie mal nicht auf dem Rad sitzt, stehen Reisen und die Liebe zu Südafrika an oberster Stelle.