Campagnolo Gran Fondo New York

George Washington Bridge, New York City, an einem Sonntagmorgen… Auf der verkehrsreichsten Brücke der Welt, wo im Jahr über 100 Millionen Autos Stoßstange an Stoßstange in das Herz von Manhattan hinein- oder herausfahren, stehen dicht gedrängt über 5.000 Radsportlerinnen und Radsportler. Noch fünf Minuten bis zum Start des vielleicht ungewöhnlichsten Radmarathons der Welt. Trikots werden zurecht gezupft, Reißverschlüße geöffnet und wieder geschlossen, Helme ein letztes Mal justiert. Die Anspannung und Vorfreude ist spürbar – das hier ist nicht alltäglich.

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Rennveranstalter Uli Fluhme, ein drahtiger Vierzigjähriger, steht in einer neongrünen Weste beim Führungsfahrzeug und animiert das Peloton gemeinsam mit seiner Frau Lidia zu einer Laola-Welle. Der gebürtige Tübinger wohnt seit 2008 in New York City. Aus beruflichen Gründen kam der Amateur-Radrennfahrer und ehemalige Ironman-Triathlet in die Hauptstadt der Welt, wie manche „The Big Apple“ gerne nennen. Kann das gut gehen als leidenschaftlicher Radfahrer in einer Metropolregion mit 18 Millionen Einwohnern? „Man kann besser in New York City radfahren, als viele denken“, sagt Uli, „es gibt eine lebendige Radsportszene, attraktive Strecken und viele aktive Fahrer.“ Einen Radmarathon gab es hingegen nicht. Also übertrug Fluhme das von ihm heißgeliebte Konzept italienischer Gran Fondi auf NYC.

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7.00 Uhr: Gerade noch hat die Gospelsängerin Sonya Rogers die Nationalhymne gesungen, nun fällt der Startschuss. Die Fahrerinnen und Fahrer machen sich auf den Weg. Zur Auswahl stehen zwei Strecken, eine über 100 Meilen (etwa 160 Kilometer), eine weitere über 50 Meilen (etwa 80 Kilometer). Wer einen flachen Flitzerkurs erwartet, täuscht sich. Uli Fluhme vergleicht die Strecke mit einem Ardennenklassiker: ein stetiges Auf und Ab. Auf der langen Runde kommen so immerhin 2.500 Höhenmeter zusammen. Dementsprechend zeigen sich beim Start die unterschiedlichen Ambitionen der Teilnehmer: Manche steigen gleich voll in die Pedale, sie fahren hier ein Rennen. Andere machen sich gemächlicher auf den Weg, für sie stehen Ankommen und Erlebnis im Vordergrund. Schon am Ende der George Washington Bridge bilden sich so die unterschiedlichsten Grüppchen.

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Die Skyline von Manhattan – heute aufgrund morgendlichen Nebels und hoher Luftfeuchtigkeit nur schwer erkennbar – verschwindet im Rücken der Fahrer, die sich nach Norden wenden. Die Strecke folgt flußaufwärts dem Hudson River, führt durch großzügige Grünanlagen und Parks sowie große Vororte wie Palisades, Piermont und Haverstraw. Die Sonne bricht durch die Wolken, es wird ein schöner Tag. Vorne wird ein hohes Tempo angeschlagen, der spätere Sieger Oscar Tova aus Kolumbien wird für die 160 Kilometer nur 4 Stunden und 14 Minuten benötigen, die schnellste Frau, Camila Cortes, ebenfalls aus Kolumbien, gerade einmal 24 Minuten länger.

Weiter hinten wird auf der Strecke ein buntes Vielvölkerfest gefeiert. Aus 70 Nationen und 48 US-Staaten kommen die Starterinnen und Starter. Brasilien stellt mit über 400 Teilnehmern das zweitgrößte Kontingent nach den USA. Was ist das Erfolgsrezept des Gran Fondo New York? „Einen Besuch in der faszinierendsten Stadt der Welt mit einem außergewöhnlichen Radmarathon zu verbinden, ist unschlagbar“, sagt Uli Fluhme, und seine Frau Lidia ergänzt: „Gran Fondo New York wird weltweit als Qualitätsmarke in Sachen Jedermannrennen wahrgenommen. Wir sind begeistert, dass die Veranstaltung auch in diesem Jahr so viel Interesse weckt – global, aber auch in New York City selbst.“

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Am Bear Mountain nach etwa 70 Kilometern trennt sich die Spreu vom Weizen. Knapp 6 Kilometer Länge, 5,5% Steigung im Schnitt, Spitzen um die 10% – nicht alle Teilnehmer schaffen diesen Anstieg im Renndradsattel. Manch einer, der sein Rad liebt, schiebt. Die Landschaft belohnt mit tollen Ausblicken auf den träge dahinfließenden Hudson River und die umliegenden grünen Hügel. Eine der größten Städte der Welt soll in wenigen Radkilometern Entfernung liegen? An diesem Ort erscheint dies unvorstellbar.

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Für die Teilnehmer der kurzen Strecke endet das Rennen mit der Bergankunft am Bear Mountain. Wer hier vom Rad steigt, wird mit Bussen zurück nach New York City transportiert. Die Mehrheit der Starter macht sich auf zwei Rädern auf den Rückweg. Über Ramapo und West Nyack – zwei von insgesamt fünf Verpflegungsstellen – geht es zurück, fröhlich wechselt man zwischen den Staaten New York und New Jersey hin und her. Und immer wieder brechen auch auf der Rückfahrt Anstiege den Rhythmus.

Rennveranstalter Uli Fluhme ist im Führungsfahrzeug mit der Spitzengruppe ins Ziel gekommen. Das nahe der George Washington Bridge gelegene Fort Lee bietet die Kulisse für den Zielbereich mit großem Festivalgelände. Fluhme und der Bürgermeister von Fort Lee, Mark Sokolich, begrüßen hier die eintreffenden Fahrer, die müde, glücklich und stolz die Ziellinie passieren. Hier steigt noch eine große Radsportparty, Fort Lee entwickelt sich in den letzten Jahren zu einem Mittelpunkt der Radsportszene in und um New York.

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Ab 18.00 Uhr wird es ruhiger. Die Radsportler ziehen sich zurück, für die Veranstalter beginnt das große Aufräumen. Uli Fluhme lehnt an einem Absperrgitter und lächelt erschöpft. „364 Tage Arbeit, Motivation, Unsicherheit und Vorfreude… und dann ist alles schnell vorbei! Aber ein Blick in die Gesichter der Teilnehmer zeigt, warum es sich immer wieder lohnt.“ In den Tagen nach den Rennen ist Fluhmes E-Mail-Postfach voll. „Was kommt als nächstes“, wollen die Teilnehmer wissen, erzählt Fluhme. Mittlerweile müssen Rennfahrer nicht ein Jahr warten, um den nächsten Gran Fondo New York fahren zu können. Unter dem Label GFNY finden mittlerweile Rennen in der ganzen Welt statt. Das ist heute, im Abendlicht mit Blick auf die Skyline von Manhattan aber sehr weit weg.

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